Frauenwerkstatt

Es ist der 23. November 1925. Ein kalter Herbstwind pfeift durch die nächtlichen Gassen der Wiener Altstadt und trägt den Duft des ersten Schnees mit sich. Margarete Lihotzky sitzt an ihrem hölzernen Arbeitstisch, der mit handgezeichneten Skizzen übersät ist. In gespenstischer Schnelligkeit flitzt der Bleistift über das Papier und versucht die sich jagenden Gedanken von Margarete einzufangen, ihnen ein Gesicht zu geben und sie für immer auf das Dokument zu bannen. Sie spürt, dass die Idee zum Greifen nah ist. Irgendwo hinter diesen vielen Eindrücken versteckt sich das im Augenblick schwer Fassbare.

Ihre neuerworbene Bauhaus-Leuchte von Wilhelm Wagenfeld wirft einen kreisförmigen Schatten auf ihre Zeichnung. „Zeit ist Geld, Geld ist Wohlstand und Wohlstand ist Freiheit.“ Sie erinnert sich an die Worte ihres Mentors Adolf Loos, dessen architektonische Philosophie mitverantwortlich war, dass sie sich vor rund zehn Jahren als einzige Frau an der Wiener Kunstgewerbeschule für Architektur einschrieb. Wenn die Frauen also weniger Zeit in der Küche verbringen müssten, würden sie mehr Zeit für sich und die Kinder haben. Sie würden damit freier werden. Um ihren Mund zeichnet sich ein Lächeln ab. Der Gedanke gefällt ihr.

Ein heftiger Windstoss reist plötzlich das nicht ganz eingehängte Fenster auf und der feucht-kalte Herbstatem fährt in die auf dem Tisch verstreut liegenden Entwürfe. Grete schreckt aus ihren Gedanken auf und eilt zum Fenster, um es wieder zu schliessen. Die Pflastersteine glänzen feucht und spiegeln das verzerrte Bild der Strassenlaternen. Die Nacht liegt dunkel und schwer über der Stadt. Grete setzt sich wieder an ihren Tisch. Das Bild der leeren Gassen erinnert sie an die leere Werkstatt, die sie vor kurzem mit einem Freund besuchte. Dieselbe dunkle Feuchte, die nur von einer schwachen Glühbirne über der Werkbank erleuchtet wurde. „Diese Werkbank ist das Heiligtum des Mannes. Ein Schrein der Kreativität, zu dem er sich zurückziehen kann, um neue Kräfte zu tanken“. Mit einem neckischen Unterton weihte sie Franz in die Geheimnisse einer Werkbank ein. Alles hat seinen Platz, für jedes Werkzeug gibt es eine Aufhängevorrichtung, jede Schraube und jeder Nagel hat sein eigens Fach. Ohne auch nur einen Schritt machen zu müssen, hat man das nötige Werkzeug zur Hand – und es auch wieder weggeräumt. „Dies“, meinte Franz mit einer belehrenden Betonung, „ist besonders wichtig, um die Arbeitsfläche für das Wesentliche freizuhalten“.

Gedankenverloren zeichnet Grete die Werkbank auf ein leeres Stück Papier. Auch die Frauen müssten einen solchen Ort der Zurückgezogenheit bekommen – eine Werkbank für die Frau, vielleicht? Sie schaut lächelnd auf ihre Skizze. Sieht doch hübsch aus, denkt sie. Vor ihr liegt der erste Entwurf einer modernen Einbauküche. Ohne es zu wissen, hat Grete Lihotzky mit diesem Werkbankansatz die Grundlage geschaffen, die beinahe hundert Jahre später so manchen Mann mit demselben, angeborenen Basteltrieb in die Küche locken wird, um sich im kreativen Kochen mit seiner Frau zu messen.

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© Peter Waltenspühl, 2019

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