Magier oder Hexe?

Ein Magier verfügt über ein grosses Wissen und eine in verschwommene Weiten reichende Weisheit. Seine hellsichtigen Fähigkeiten bauen auf dieses Wissen und ermöglichen ihm, Datenquellen aus der Zukunft anzuzapfen, um damit den Menschen der Gegenwart mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Seine Zauberkräfte sind mit wissenschaftlichen Tätigkeiten eng verwoben und seine magischen Fähigkeiten haben einen universitären Ursprung. So erfreuen sich Magierschulen (Hogwarts, HSG, ETH, etc.) auch heute noch einem hohen Ansehen.

Die Hexe auf der anderen Seite führt ein Leben im Verborgenen. Möchte man sich ihrer Fähigkeiten bedienen, schleicht man im Dunkeln zu ihr. Niemand möchte zugeben, von einer Hexe beraten worden zu sein. Sie zieht ihr Wissen aus dem unerschöpflichen Fundus der Natur. Sie kennt die Wirkung der Pflanzen und das komplexe Zusammenspiel von Flora und Fauna. Sie weiss, wie der menschliche Körper auf die unterschiedlichen Naturkräfte reagiert. Ihre Zukunftsvisionen holt sie aus Kaffeesatz-Strukturen, Wetterphänomenen, Knochenmikado oder halluzinogenen Cannabis-Dampfbädern.

Heute spricht man nicht mehr von Hexen und Magiern, sondern bedient sich weit ansprechenderen Bezeichnungen wie Markt- und Trendforscher oder Marketingleiter. Die Zauberstäbe sind jedoch verschwunden und die Kraft der Pflanzen ist ihnen nicht geläufiger als den meisten Grossstadkindern, die mit Erstaunen einen Löwenzahn aus dem Riss im Asphalt spriessen sehen. Das universelle Wissen schöpfen sie aus Zauberbüchern von Kottler und Horx, die jedoch nicht hinter Türen mit sieben magischen Schlössern geheim gehalten werden, sondern in jedem Buchladen an der Ecke käuflich erworben werden können. Um in die Zukunft zu schauen, bedienen sie sich nicht mehr der magischen Kristallkugeln. Vielmehr hohlen sie sich ihr Wissen aus vielen schlaflosen Nächten und überall auf der Strasse herumliegenden Informationsschnipsel, die sie zu einem seligmachenden Ganzen zusammenzufügen versuchen.

Trotz dieser enorm reduzierten Hilfsmittel wenden sich die Mächtigen dieser Welt gerne an diese Gilde, um etwas Licht in die Nebel der Zukunft zu bringen. Sie wünschen sich genaue Prognosen über Absatzmärkte, Konsumverhalten, Designtrends, Zinsentwicklungen an den Kapitalmärkten und Gewinnspannen von Produkten, die noch nicht einmal erfunden worden sind. Dabei reicht ihnen eine vage Angabe wie „ungefähr 10%“ oder „zwischen eins Koma zwei und eins Koma vier“ bei weitem nicht. Der Blick in die Zukunft muss mit scharf gestellter Linse und starker Vergrösserung vollzogen werden. Der Umsatzzuwachs auf die Komastelle genau muss mit Marktanteil, Gewinnzuwachs und dem König aller Zahlen dem ROI (Return on Investment) einhergehen – sämtliche Zahlen natürlich mit einem Zuverlässigkeitsintervall. Mit einer undiskutablen Präzision müssen die komplexen Zusammenhänge beschrieben werden, wie sich die emotionalen Reaktionen einer Konsumentengruppe mit einem bestimmten Lebensstil nach einer crossmedialen Kampagne zur Einführung eines neuen Verpackungskonzeptes auf ihr Kaufverhalten auswirken könnten.

Ob wir die modernen Marketingleiter nun Hexen oder Magier nennen sollen, hängt vom Erfolg respektive vom Misserfolg ihrer Prognosen ab. Trifft eine inszenierte Kampagne voll ins Schwarze, so dass Umsätze und Gewinne in die Höhe getrieben und die vorhergesagten Zahlen, nachdem sie durch die Verjüngungskur der Buchhaltung gejagt wurden, einigermassen getroffen werden konnten, spricht man gerne von den Magiern aus der Marketingabteilung. Jeder Harry Potter Kenner weiss jedoch, dass diese in einer verborgenen Parallel-Welt leben, von deren Existenz man noch nicht richtig überzeugt ist. So können die ganzen Erfolge also bedenkenlos den „weltlichen“ Führern zugeschrieben werden.

Sollte die Kampagne jedoch fehlschlagen, können wir jedoch gerne auf die Hexenverbrennung zurückgreifen, die ja in der Schweiz erst vor kurzem offiziell abgeschafft wurde.

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© Peter Waltenspühl, 2019

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