Der Fotograf und das Mädchen
Der Fotograf schaute sie lange an. Er wartet auf eine Regung in ihrem makellosen Gesicht, eine kleine Reaktion nur, irgend etwas. Aber sie sass unbeweglich an die Wand gelehnt, so ehern und beständig wie der graue Beton hinter ihr. Ihre leicht angezogenen Beine schimmerten in der Abendsonne und in ihrer Sonnenbrille spiegelten sich die Parkplatznummern dieses alten Vorstadt-Parkhauses. Ein lauer Wind verfing sich in einer ihrer Locken, so dass diese vor Erregung zitterte. Der Strassenlärm der Grossstadt erstarb, bevor er seinen Weg zum obersten Parkdeck fand. Nur aus weiter Ferne vernahm man einzelne Geräuschfetzen, die an das pulsierende Stadtleben erinnerten und die die Stille auf dem Set noch lähmender machte.
Der Fotograf kauerte immer noch am Boden. Sie musste doch etwas gemerkt haben. Sie musste es doch auch gespürt haben. Nein, keine Reaktion! Er konnte es kaum glauben. Die kleinen, goldenen Haare auf ihrem Arm verneigten sich im Wind. Er wusste, dass nur er es sehen konnte. Die Optik seiner Kamera machte es für ihn sichtbar. Sie selbst bewegte sich nicht. Völlig reglos verstrahlte sie ihre Schönheit. Ihrer Bewegungsfähigkeit beraubt wurde sie selbst zu einem Bild, und die Zeit gefror zu einem Moment zusammen.
Er presste sein Gesicht enger an die Kamera. Er musste sich an ihr festhalten – und an dem, was sie eingefangen hatte. Eine Schweissperle bildete sich auf seiner Stirn. Sein Atem versiegte. Er folgte der feinen Linie aus Licht, welche die Abendsonne auf ihre rechte Gesichtshälfte zeichnete. Er bemerkte das Schattendreieck, das die Nase in ihr Gesicht warf. Er verlor sich in der zitternden Bewegung einer Haarsträhne, durch die der laue Abendwind strich. Ihr Brustkorb hob und senkte sich beinahe unbemerkt, aber im Einklang mit dem Wind. Das warme Licht strömte in harmonischen Wellen durch die Linse in sein Herz.
Wie intensiv diese lebendige und pulsierende Schönheit doch sein Innerstes berührte. Ihm wurde plötzlich die Intimität des Momentes bewusst. Er fühlte sich schuldig und gleichzeitig reich beschenkt. Nur er konnte es sehen. Er war eingedrungen in diese kleine Welt im Sucher seiner Kamera. Er fühlte sich eng verbunden mit dieser unbeweglichen Schönheit im Abendlicht und gleichzeitig weit entfernt, ausgesperrt durch die Linse vor seinem Auge. Sein Finger zuckte und er spürte den leichten Gegendruck, als ob sich der Auslöser dagegen wehren wollte. Er wusste genau, dass er diesen Moment nie würde festhalten können – ganz egal welche Blende oder welche Zeit er einstellen würde. Und er schämte sich, dass er es trotzdem versuchen würde.
Und mit dem dumpfen Klackgeräusch des zurückschnellenden Spiegels brannte sich das Bild tief in sein Herz, so tief, dass kein Delete-Knopf dieser Welt es je wieder würde löschen können. Und schon wieder fühlte er diese verschworene Nähe zu ihr, dieses verständnisvolle Zusammenrücken. Und auch dieses Mal zeigte sich keine Regung in ihrem makellosen Gesicht.
Auch sie hörte das Klacken des Auslösers, ein Geräusch der Befreiung, ein Geräusch der Erlösung. Sie stellte sich vor, wie sie in angemessenem Schritt dem Laufsteg entlang glitt, hinein in die funkelnden und blitzenden Augen der vielen Kameras der Pressefotografen. Sie stellte sich vor, wie sie mit offenen Mündern angestarrt würde, wie sie den Zuschauern im Vorbeischweben den Atem rauben würde. Sie fühlte die Bewunderung als einen warmen Hauch auf ihrem Gesicht.
Die Sehnsucht trieb sie fort, weg von diesem Parkdeck an einen weit entfernten Ort, an dem die Menschen keinen Augen hatten, an einen Ort, an dem man nicht mit Schönheit blenden konnte. Sie träumte davon, dass sie jemand wirklich als Mensch wahrnahm. Sie warf die fleischliche Hülle ab, auf die sie so stolz gewesen war, und tanzte wie ein kleines Kind im Regen. Sie spürte die ungezwungene Leichtigkeit in ihr hochsteigen, ein helles Lachen formend. Doch sie musste sich konzentrieren. Sie durfte ihre professionelle Unbeweglichkeit nicht zu verlieren.
Sie sah die Linsen der Kamera in den Augenwinkeln und stellte sich vor, wie diese ein Loch in sie hineinbrennen würde, so dass man direkt die Schönheit ihres Herzens erkennen konnte. Sie fühlte sich einsam, ausgestellt und doch unsichtbar. Ein erneutes Klacken und das leise Säuseln des Windes, der warm und trocken über das Parkdeck strich, umrahmten die Stille, eine Stille, die zwei Welten umschloss, welche nur durch ein paar dünne Linsen getrennt waren und doch unendlich weit voneinander entfernt lagen.