Es ist kalt geworden

Es ist kalt geworden. Die tiefen Temperaturen drücken sich hart und schneidend ins Gesicht. Ein feuchter Hauch streift über die Haut und entzieht ihr die warme Geschmeidigkeit. Beim Einatmen schneidet die weisse Luft in die Lungen hinab, um beim Ausatmen als weisse Wölkchen vor den Lippen hängen zu bleiben.

Die Menschen senken ihre Blicke, atmen in ihre Schals, die sich unter dem Kinn vom gefrierenden Atem langsam weiss färben. Ihre Schritte werden mit zunehmender Kälte schneller. Der nahe Winter sitzt ihnen im Nacken. Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen und all die unerledigten Dinge zwängen sich noch vor die Festtage. Die Tage werden kürzer und das Leben wird schneller.

Der Herbst zieht mit seinen nebligen Pinselstrichen einen beruhigenden Schleier über die aufkommende Jahresendhektik und verlangsamt den Pulsschlag der Natur. Kaum hörbar, leise und unauffällig zieht sie sich zurück. Die letzten Zugvögel sammeln sich und üben in wehenden, ineinander fliessenden Schlieren ihren letzten Tanz. Ihr Gesang ertönt bereits aus weiter Ferne. Sie ziehen davon und nehmen die Farben mit sich.

Die Blätter fallen, werden vom Wind im lustigen Spiel durch die kalte Luft gewirbelt, werden vom Regen und der nebligen Feuchtigkeit zu einem letzten Glänzen gebracht bevor sie auf dem Asphalt klebend immer farbloser werden und dann den Sommer endgültig vergessen.

Im Park in der Nähe des Stadtzentrums ist das Kinderlachen verstummt. Hie und da zeugen eine vergessene Schaufel im Sandkasten oder ein verschollener Plastiksoldat von dem pulsierenden Leben wärmerer Tage. Die grossen, dunklen Laubbäume im Park haben sich etwas früher ihrer Blätterlast entledigt und ihre kahlen Äste stechen dunkel in den nebelweissen Himmel. Am Boden presst die klamme Nässe die rostbraunen Blätter zu einem feuchtglänzenden Teppich zusammen. Nur ganz vereinzelt streckt ein Pilz seinen Schirm durch die Blätterschicht in die kalte Luft dieses grauen Herbstmorgens.

Der Mann sitzt alleine auf einer Bank. Im Park ist es still. Der Nebel verschluckt jedes Geräusch. In einiger Entfernung führt eine Frau ihren Hund an der Leine spazieren. Ihr Alter wurde vom Herbstmorgen weggewischt. Wie zwei Silhouetten stehen sie da, verbunden durch eine dünne, schwarze Leine.

Auch der Mann erinnert sich nicht an sein Alter. Er sitzt da, ohne Leine, ohne Bezug. Seine Anwesenheit fügt sich grau in das Bild der Parkanlage. Seine Gedanken versuchen sich über die Nebelschicht zu erheben. Sie fliegen in ferne Länder. Fantasie und Erinnerungen werden im richtigen Verhältnis gemischt und erzeugen lauwarmes Meeresrauschen, von Heuduft geschwängerte Sommerluft, die sich vor dem aufziehende Gewitter zurückzieht und ruhig flackerndes Kerzenlicht auf dem Tisch einer geborgenen Dachwohnung.

Seine Augen fokussieren die Ferne und seine Mundwinkel verziehen sich zu einem angedeuteten Lächeln. Niemand sieht es. Der Mann fühlt sich einsam und er geniesst es. Dieser regnerische, graue Tag versetzt ihn in eine magische Stimmung – kaum in Worte zu fassen, schwer zu verstehen. Weit entfernt von Melancholie oder Depression verfügt sie über das Potential, Träume entstehen zu lassen. Harmonische Klänge und farbige Bilder einer anderen Welt oder einer fernen Zukunft werden in das neutrale graue Licht gepackt. Kein fremdes Geräusch, kein knalliger Geruch und keine schrillen Bilder stören sie.

Der Mann geniesst die vielen Zeichen der Vergänglichkeit in einem mit Trostlosigkeit gemalten Bild ohne viele Farben und ohne viele Geschichten. Er fühlt sich als Teil dieses Bildes, öffnet seinen Geist, und sein Herz und lässt diese kalte, schneidende Inspiration in sich hineinströmen. Zwischendurch wischt er sich einen kalten Tropfen von der Nase und presst seine Arme enger an seinen Körper. Es ist kalt geworden.

 

 

 

© Peter Waltenspühl, 2019

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